Ein Obstzüchterhaus in Werder (Havel)

Ein Obstzüchterhaus in Werder (Havel)

Ein Wassergrundstück in Werder (Havel): Mehrere Reihen aufgetürmter Steine, ein offenes Kellergewölbe, mit Unkraut und einem wilden Essigbaum bewachsen, und das restaurierte Nebengelass rauschen an mir vorbei, wenn ich mit dem Fahrrad durch die Straße fahre, in der ich aufgewachsen bin. Den großen Garten gibt es noch. Er erstreckt sich bis ans Ufer der Havel. Mein Vater sprach stolz von einem Morgen Land, bewachsen mit Obstbäumen und Gemüsebeeten.

Vorn am Haus pflegte meine Mutter ihren Blumengarten. Es schloss sich eine Rasenfläche an, unter einem großen Nussbaum. Dort saßen wir zusammen, bei Kaffee und Kuchen, mit der Familie, bei Feierlichkeiten; dort spielte ich mit meinen Freundinnen Gummihopse oder Federball. Dort breiteten wir unsere Decken aus, lagen in der Sonne, lasen ein Buch und sprachen über unseren ersten Schwarm, der mit uns zur Schule ging und den wir uns nicht anzusprechen trauten.

Dabei blickten wir auf die Schuppen: Drei waren es. Einer war voll mit Holz, im zweiten stand der blaue Trabant meines Vaters. Später war er grün. Der dritte Schuppen gehörte meinem Großonkel, der in dem Haus geboren wurde und von seinem Vater, meinem Uropa, ein lebenslanges Wohnrecht bekam.

1978: Das Elternhaus. Mein Bruder und ich wuchsen dort in vierter Generation auf

Ein Haus – zwei Familien

Das Haus war groß genug, für zwei Familien. Jeder hatte einen eigenen Eingang von der Gartenseite. Der dritte Eingang zeigte zur Straße. Ihn nutzen wir gemeinsam. Die Waschküche mit zwei Etagen schloss sich dem Schuppen an. Dieser Bereich steht heute noch. Das Haus wurde vor fünfzehn Jahren abgerissen. Nur die Grundmauern blieben erhalten. Der neue Besitzer baute sein Haus direkt am Wasser.

Achtzehn Jahre lebte ich in dem Haus, das meine Urgroßeltern bauten oder geschenkt bekamen. Was von den beiden Varianten nun stimmt, weiß keiner so genau. Ich habe viereinhalb Monate nach meiner Volljährigkeit geheiratet und bin mit meinem Mann und unserem kleinen Sohn in eine Neubauwohnung gezogen. Zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad. Unser eigenes Reich, für fünfundfünfzig Mark warm. Wir richteten es von dem Ehekredit ein und von dem Geld, das unsere Eltern in die Töchterversicherung gespart hatten.

Wir waren glücklich und fühlten uns wie Könige, in unserer ersten eigenen Wohnung. Doch von meinem Elternhaus war es ein Abschied für immer: ich kehrte nie zurück, in mein Zuhause, in dem ich in vierter Generation aufgewachsen bin. Drei Jahre nach unserem Auszug, die DDR gab es nicht mehr, verkaufte mein Vater das Haus und Grundstück. Geblieben sind die Erinnerungen und die Steine, auf die mein Blick fällt, wenn ich mit dem Fahrrad an meinem ehemaligen Zuhause vorbeifahre. 

Wurzeln in Werder (Havel)

Meine Wurzeln liegen in Berlin-Brandenburg und in Mecklenburg. Sie sind geprägt durch die Teilung Deutschlands und durch Familienzweige, die, betrachtet man ihre Herkunft, unterschiedlicher nicht sein können: Mein Vater entstammte einer Familie von Fischern und Obstzüchtern. Mein Großvater mütterlicherseits war Arzt, mein Urgroßvater ein evangelischer Pfarrer.

Beim Studium in Leipzig lernten sich unsere Eltern kennen. Sie heirateten, mein Vater erbte das Obstzüchterhaus an der Havel von seinem Großvater. Ich wurde vier Jahre nach der Hochzeit geboren, mein Bruder ist sechs Jahre jünger als ich.

Geblieben sind uns die Erinnerungen an eine wunderbare Kindheit. Nie verarbeitet blieb der Verlust unseres Elternhauses: Es gibt Momente im Leben, aus denen wir aus dem Bauch heraus eine Entscheidung treffen. Erst viel später werden uns die Konsequenzen bewusst. Wir würden gern die Zeit zurückdrehen und die Entscheidung ändern. Doch das ist nicht mehr möglich. Das Obstzüchterhaus, unser Elternhaus, gibt es nicht mehr. Doch es hat eine Geschichte. Es ist die Geschichte unserer Familie.


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