Auf der Suche nach der Heimat

Auf der Suche nach der Heimat

Kennst du noch das gute alte Poesiealbum? Es ist der Vorgänger vom bunten Freundebuch. Die Kids und Teens füllen es heute nicht mehr mit Sprüchen von Goethe, Tavares oder Konfuzius. Sie kreuzen an, was sie mögen und was sie nicht so gut leiden können. Ich fand das Poesiealbum besser. Doch ich bin auch schon ein älterer Jahrgang. Als Einstimmung zu diesem Artikel fällt mir ein Spruch ein, den meine Klassenkameraden mehrfach eingeschrieben hatten:

Vergiss nie deine Heimat, wo deine Wiege stand. Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland

Unbekannter Autor
Badeinsel auf dem Glindower See in Werder (Havel)
Badeinsel auf dem Glindower See. 2019 haben wir darauf übernachtet. Ganz spontan. Sie war an unserem Boot befestigt. Ein bisschen verrückt, aber näher kann man dem Wasser – unserer Heimat – nicht sein.

Tief verwurzelt in meiner Havelstadt

Ich bin ein Mensch mit tiefen Wurzeln. Meine Familie lebt seit mehreren Jahrhunderten Werder (Havel). Wir haben elf Generationen zurückverfolgt, weiter sind wir in unserer Ahnenforschung bislang nicht gekommen. Doch vermutlich gehen die Wurzeln noch tiefer. Schaue ich auf die Herkunft meiner Großeltern mütterlicherseits, bleibe ich in Berlin. Oder in Preußen, denn mein Großvater wurde 1899 in Spandau geboren, meine Großmutter 1900 in Staaken. Beide fanden in Mecklenburg eine neue Heimat. Doch ihre Wurzeln nahmen sie mit: Bei meiner Oma hieß das gebratene Hackfleischdingens Boulette und nicht Klops. Der kommt aus Königsberg und wird mit einer hellen Kapernsoße serviert. Meine Mutter wurde in Mecklenburg geboren. Doch sie kehrte beide zurück, zu ihren Wurzeln. Nach Berlin-Brandenburg.

Sonnenuntergang über dem Crivitzer See in Crivitz (Mecklenburg)
Blick auf den Crivitzer See. Es ist ein Ort in Mecklenburg, dem ich eng verbunden bin

Das Wasser als Heimat

Ich bin auf einem Grundstück aufgewachsen, das an die Havel grenzte. So begleitet mich das Wasser seit frühester Kindheit. Das Grundstück, auf dem ich heute lebe, endet an einem schmalen verkehrsberuhigten Weg. Das Wasser ist weiter weg als in meiner Kindheit. Doch wir haben seit mehr als 20 Jahren ein kleines Boot. Ich brauche die Nähe zum Wasser und könnte an einem Ort ohne See oder Meer nur schwer leben. Lange habe ich mich den Bergen verschlossen, doch nach einer Überfahrt über die Alpen habe ich erkannt, dass auch andere Landschaften ihren Reiz haben. Da war ich viele Jahre überhaupt nicht offen für.

Die Havel. Meine Heimat

Jeder Mensch hat seine Heimat. Meine ist die Havel. Ich bin ihr so eng verbunden, dass ich auf einer Badeinsel übernachte. Als wir in unserem Umfeld davon erzählten, wurden wir ein bisschen komisch angeguckt. Und vermutlich würde auch ich erst einmal stutzen. Doch manchmal muss man im Leben ein bisschen verrückt sein. Wir sind gerne verrückt, obwohl wir die Jugend lange hinter uns gelassen haben. Doch zurück zu den Wurzeln. Zum Begriff der Heimat.

Noch einmal Mecklenburg und Preußen

Mein Großvater väterlicherseits kam aus der Nähe von Röbel (Müritz), die Familie meiner Großmutter lebt seit Generationen in Werder (Havel). Meine Omi wies gern darauf hin, dass es im Jahr ihrer Geburt, 1913, noch einen Kaiser gab. Somit konzentriert sich Heimat für meine Familie auf zwei Bundesländer: Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Zu beiden habe ich eine besondere Bindung. Ich habe nie woanders gelebt. Heimat ist für mich ein eindeutiger und geradliniger Begriff. Doch das Leben kann auch andere Wege gehen.

Was ist Heimat?

Es gibt Menschen, die häufig umziehen. Die auswandern, zurückkehren oder in einer Region sesshaft werden, die sie als Kind noch gar nicht kannten. Ist Heimat wirklich der Ort, an dem die Wiege stand? Meine Biografie sagt ja. Du wirst es vielleicht verneinen. Wir beobachten in unserer Havelstadt gerade, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Regionen Deutschlands bei uns eine neue Heimat suchen.

Menschen verlassen heute eher als ihre vorigen Generationen den Ort, an dem ihre Wiege stand. Die Nähe zu Berlin und Potsdam, zur Havel und die rege Bautätigkeit sind als neue Heimat attraktiv. Doch es gibt andere Geschichten. Von Menschen, die erst im Erwachsenenalter eine Heimat finden. Weil sie in eine Familie hereingeboren werden, die keine Wurzeln hat. Weil sie vertrieben wurde. Oder weil das Leben rastlos war.

Wenn die Wiege nicht in der Heimat steht

Eine Stadt in Thüringen. Eine Stadt in Sachsen-Anhalt. Ein Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Und ein Ort an der Havel. In der DDR war es eine Reise quer durch die Republik. Eine Reise durch vier Bezirke. Heute ist es eine Reise durch vier Bundesländer. Ein Mann ist auf der Suche nach seinen Wurzeln. Ich nenne ihn Max.

Max hat mit 19 Jahren an der Havel seine Heimat gefunden. Mit Mitte 50 macht er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln. Sie liegen in keinem der vier genannten DDR-Bezirke. Sie liegen Deutsch-Böhmen und Schlesien. Doch beginnen wir von vorn:

Die Mutter von Max lebte in Thüringen, als sie mit ihm schwanger wurde. Geboren wird er in Dessau. In Gohrau, einem kleinen Dorf in der Nähe von Wörlitz, steht seine Wiege. Dort verbringt er die ersten anderthalb Jahre seines Lebens allein mit seiner Mutter. Seinen Vater kennt er nicht.

Kurz nach seinem ersten Geburtstag heiratet die Mutter und zieht mit ihrem Ehemann nach Mecklenburg-Vorpommern. Ein weiteres Jahr später wird Max einbenannt: Er trägt nun den Namen seines Stiefvaters und sagt Vati zu ihm. Im Schweriner Raum wächst er auf. An den kleinen Ort, in dem seine Wiege stand, hat er keine Erinnerung. Er wird ihn fünfzig Jahre nach seinem Umzug in den Norden das erste Mal besuchen.

Gohrau in Sachsen-Anhalt. Hier stand die Wiege von Max

Das Schweigen der Eltern

In der Schublade des Schreibtischs, an dem Max seine Hausaufgaben erledigte und erste Briefe an ein Mädchen aus dem Ferienlager schrieb, liegt sein Impfausweis. Auf der Vorderseite steht die Adresse, an der er in seinen ersten anderthalb Lebensjahren gewohnt hatte. Er maß seinem Geburtsort und dem ersten Wohnort keine Bedeutung bei. Dass er nicht in Mecklenburg geboren wurde, erfährt er erst mit vierzehn Jahren. Er hält seinen ersten Personalausweis in der Hand.

Fragen stellt er keine. Der Stiefvater ist Autorität, die Mutter ordnet sich unter. Beide schweigen. Die Herkunft von Max bleibt ungeklärt. Er ist ein Mecklenburger Junge. Er spricht den breiten Dialekt und er kennt den Ort im Raum Schwerin in- und auswendig. Seine Wiege stand dort nicht, aber er kennt keine andere Heimat.

Die halbe Wahrheit

Max ist achtzehn, als er durch einen Zufall erfährt, dass er einen Stiefvater hat. Er hat seine Ausbildung abgeschlossen, es zieht ihn weg, aus Mecklenburg. Seine Arbeit gefällt ihm nicht, die Autorität im Elternhaus auch nicht. Er kennt nur die halbe Wahrheit und bekommt keine Antworten. An dem Ort, in dem er aufwuchs, hält ihn nichts. Er lernt ein Mädchen kennen, verlässt sein Elternhaus und zieht zu ihr in den Bezirk Potsdam.

Die Lewitz in der Nähe von Parchim in Mecklenburg-Vorpommern
Der weite Blick über die Lewitz, einem Naturschutzgebiet zwischen Ludwigslust und Parchim in Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist Max oft mit seinem Moped unterwegs

Jahrzehnte vergehen

Max heiratet. Er wird Vater, 23 Jahre später Großvater. Erst nach seinem 50. Geburtstag spricht er seine Fragen aus. Aber nicht zu spät. Antworten bekommt er nicht. Seine Mutter hat die Herkunft von Max vergessen. Der Stiefvater überschüttet ihn mit einem zügellosen Redeschwall und bringt Max auf einen Gedanken.

Gewissheit nach einem halben Jahrhundert

Max beginnt, sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Mit der Suche nach seinen Wurzeln. Das Internet liefert die Antworten, die er in seinem Mecklenburger Elternhaus nicht bekommt. Natürlich kennt das Netz nicht seine wahre Identität. Es weiß aber eine Anlaufstelle, die anders als die Mutter nicht vergessen hat: Das Standesamt in Dessau, das seine Geburt beurkundet hat. Er erfährt den Namen seines Vaters und lernt ihn kennen. Mutter und Stiefvater verzeihen ihm den Schritt nie.

Flucht und Vertreibung

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Geburt weiß Max, dass seine Wurzeln nicht in den Regionen liegen, in denen seine Mutter lebte. Nicht in Thüringen, wo sie arbeitete. Oder in Sachsen-Anhalt, wo seine Wiege stand. Nicht in Mecklenburg-Vorpommern, wo er aufwuchs. Und nicht in Brandenburg, wo er seit seinem 20. Lebensjahr lebt.

Seine Mutter stammte aus Deutsch-Böhmen. Ihre Eltern wurden vertrieben. In der Familie sprach man darüber nicht. Das ist Vergangenheit, das ist vorbei, hieß es dort. Sein Vater wurde in Schlesien geboren. Auch seine Familie war Opfer der Vertreibung. Da seine Eltern früh starben, hat er kaum Erinnerungen, an seine Heimat.

Wo liegt die Heimat von Max? Kann ein Mensch ohne Wurzeln überhaupt eine Heimat haben?

Havelradweg auf dem Deich in der Nähe von Phöben, einem Ortsteil von Werder (Havel) in Potsdam-Mittelmark
Der Havelradweg in Potsdam-Mittelmark. In dem Landkreis findet Max seine Heimat

Das Herz findet eine Heimat

Mit neunzehn Jahren kam Max an die Havel. Schnell beginnt er, den Dialekt zu sprechen. Er hat seine Arbeit dort. Seine Familie. Seinen Lebensmittelpunkt. Seine Wurzeln liegen im heutigen Polen und in Tschechien. Er wurde in Sachsen-Anhalt geboren und wuchs in Mecklenburg auf. Doch sein Zuhause liegt im Bundesland Brandenburg. Dort hat er sein Herz gelassen. Seine Kinder wuchsen dort auf. An der Havel hat er Wurzeln geschlagen. Nach mehr als vierzig Jahren ist die Havelstadt die Heimat von Max geworden. Den Ort, an dem seine Wiege stand, hat er nur zweimal besucht. Er ist ihm fremd. Heimat ist, wo das Herz zu Hause ist.

Kennst du die Havelstadt, in der Max seine Heimat fand?

Die Geschichte von Max ist ein Beispiel dafür, dass sich Menschen tief in einer neuen Heimat verwurzeln können.

Heimat – ein wechselvoller Begriff

In der Betrachtung unserer modernen mobilen Zeit ist Heimat ein wechselvoller Begriff. Doch blicken wir zurück, zu der Geschichte meiner Familie, zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Meine Großeltern verließen Preußen in den 1920er Jahren, weil mein Opa in Mecklenburg eine Stelle als Landarzt bekam. Das reizte ihn. Meine Mutter kehrte in den 1960er Jahren in die Heimat ihrer Eltern zurück, weil mein Vater hier lebte und beide seine Heimat als Lebensmittelpunkt wählten.

Die Eltern von Max wurden mit ihren Familien aus ihrer Heimat vertrieben. Unfreiwillig. Viele hätten ihr Zuhause sicher nie verlassen, nicht wenige verwanden die Vertreibung nie. Es starben ganze Kulturen und Dialekte: In Schlesien, Deutsch-Böhmen, auch in Ostpreußen und Pommern. Die Eltern von Max waren bei der Vertreibung Kleinkinder. Sie haben kaum Erinnerung, haben ihre Wurzeln verloren, konnten sie an ihre Kinder nicht weitergeben.

Der Lebensweg von Max führte ihn über Sachsen-Anhalt und über Mecklenburg-Vorpommern nach Brandenburg. Auf den ersten Stationen unfreiwillig: Seine Mutter entschied es so. Sie war rastlos, in einer Zeit, in der Alleinerziehende keine Normalität, sondern eine Schmach waren. Max verließ seine Heimat, weil er sich verliebt hatte. Aber auch, um sich von seiner Herkunftsfamilie zu befreien.

Die Wiege muss nicht in der Heimat stehen

Vielleicht ist der Spruch über die Wiege in der Heimat in unserer mobilen Welt veraltet. In jedem Fall ist Heimat der Ort, mit dem das Herz verbunden ist. Max hat seine Heimat an der Havel gefunden. Muss dort zwingend die Wiege gestanden haben? Nein!


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